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Leseprobe »Wir erwachsenen Trennungskinder«: Elterntrennung: Die Zeit heilt nicht alle Wunden

Wenn Eltern sich trennen und ihre Kinder dabei nicht gut begleitet wurden, hinterlässt das bei vielen Menschen Spuren. Meist ist es erwachsenen Trennungskindern gar nicht bewusst, dass manche ihrer belastenden Denk- und Verhaltensmuster mit der elterlichen Trennung in der Kindheit zusammenhängen – etwa ein geringer Selbstwert, Harmoniesucht, Aggressivität oder das Gefühl, für alles verantwortlich zu sein, und die Sorge, in Beziehungen zu versagen. Angefüllt mit persönlichen Geschichten und neuesten Erkenntnissen aus Entwicklungspsychologie und Familienforschung zeigt dieses berührende Buch Wege auf, um Belastungen des inneren Trennungskinds zu verarbeiten. Übungen zur Selbst- und Beziehungsarbeit machen Mut, das Leben neu und selbstbewusst auszurichten und emotional unabhängig zu werden. Denn eine wertschätzende und erfüllende Beziehung zu sich selbst und zu anderen ist möglich!
Eltern trennen sich, Kind steht in der Mitte

Viele erwachsene Trennungskinder berichteten uns in den Interviews, dass diese unterdrückte Wut sich dann später ein Ventil sucht. Franziska beispielsweise berichtet im Gespräch, dass sie seit der Trennung ihrer Eltern bis heute ihre unterdrückte Wut gegen sich selbst richtet. In anderen Fällen verschiebt sich die Wut aber auch auf Partner:innen, Arbeitskolleg:innen oder Freund:in-nen und hat nicht selten eine zerstörerische Wirkung.

Und welche Rolle spielt unser Gehirn dabei?

Wenn deine schmerzhaften, noch nicht verarbeiteten Erinnerungen also wieder aufgeweckt werden, ist dein Gehirn überfordert und in der Regel mit Stresshormonen überflutet, wie du es auch als Kind kanntest: Ich kann nichts tun und alles ist mir zu viel. Das Gehirn kann die Situation aber nur verarbeiten, wenn du einigermaßen entspannt bist. Zu hoher Stress wirkt sich ungünstig auf die Nervenzellen im Gehirn aus: Erfahrungen werden dann erst einmal weggepackt und nicht im Langzeitgedächtnis, sondern emotional abgespeichert. Das bedeutet, dass du in ähnlichen Situationen immer wieder emotional reagiert, ein Teufelskreis.

Das macht dein Gehirn natürlich nicht, um dich zu ärgern, sondern es nutzt eine uralte Strategie: Bereite dich auf Gefahren vor. Das war in der Steinzeit bestimmt sehr oft sinnvoll und auch als Kind hast du möglicherweise die Trennung deiner Eltern als große Gefahr für dich und dein weiteres Leben wahrgenommen. Heute bist du erwachsen und selbstständig und könntest auch mit dem Alleinsein umgehen. Doch dein Gehirn unterscheidet in solchen Hochstressmomenten oft nicht zwischen Vergangenheit und Gegen-wart. Du erlebst also wieder diese überwältigenden Gefühle. In dir schlägt es Alarm und du beginnst dich dann doch in Millisekunden zu schützen, weil das Gehirn, die Amygdala die Botschaft erhält: Hier droht Gefahr – schütze dich!

Diese ständigen Schutzmechanismen, die Alarmbereitschaft kann jedoch in Beziehungen weitreichende Folgen haben. Wenn das Gehirn abgespeichert hat Beziehungen sind nicht sicher, schütze dich! Du wirst bestimmt verlassen!, erlebst du Konflikte möglicherweise als bedrohlich und wechselst schneller in einen Kampfmodus. Denn Kampf und Flucht sind neben dem Rückzug, wenn man gar nichts mehr tun kann, die Mechanismen, die ganz automatisch genutzt werden.

Schaffst du es als erwachsenes Trennungskind zu sehen, dass hinter deiner Wut eigentlich eine große Angst davor steht, dass die Beziehung nicht hält, hast du schon den ersten Schritt getan: Du bist nicht automatisch in den Kampfmodus gegangen, hast deine alten Verletzungen anerkannt und konntest deinem Gehirn die Rückmeldung geben: Heute droht keine Gefahr, ich kann mich beruhigen und meine Wünsche und Bedürfnisse ansprechen und Lösungen finden.

Wenn Klient:innen mir in Beratungsgesprächen im Rahmen der Familienbegleitung berichten, dass sie in Konflikten zu übermäßiger Wut neigen, schlage ich ihnen Mindmapping vor. Auf einem Blatt schreiben sie eine typische auslösende Situation in die Mitte. Drumherum notieren sie, welche Gefühle, Gedanken, Glaubens-sätze etc. in ihnen wirken sowie wie sie reagieren. Beides überkleben sie dann mit Klebezetteln, auf denen sie notieren, warum die Gefühle, Gedanken und Glaubenssätze nicht hilfreich oder nicht stimmig sind bzw. welche Alternativen im Hier und Jetzt passend wären. Ebenso notieren sie, wie sie lieber reagieren möchten. Aus den Ergebnissen lasse ich die Klient:innen im Anschluss einen Satz herausschälen, der ihnen helfen kann, sich in den emotionalen Momenten daran zu erinnern, wie sie eigentlich sinnvoll reagieren möchten.

Vielleicht ist das auch ein guter Impuls für dich. Wenn du allein nicht weiterkommst, kannst du jemanden in die Überlegungen miteinbeziehen, der dich gut kennt.

Gelernt ist gelernt

Doch auch wenn die Trennung der Eltern nicht traumatisch verarbeitet wurde, können die Erlebnisse deiner Kindheit prägend sein. Jeder erinnert sich an das, was er oder sie gelernt hat, und reagiert entsprechend. Es entstehen Verhaltensmuster, die häufig bis ins Ewachsenenalter stabil bleiben. Das gibt Sicherheit: Ich reagiere so, wie ich es kenne.

Solche Muster geben Orientierung und Halt. Doch Trennungs-kinder haben nicht immer gute Vorbilder erlebt: Der Umgang der Eltern untereinander und mit den Kindern beeinflusste ihr Verhalten. Welche Erfahrungen prägen sich zu Verhaltensmustern, die bei erwachsenen Trennungskindern die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie ihre Wut als zerstörerisch erleben?

  • Die Kommunikation der Eltern besteht aus Angriff und Verteidigung. Man bespricht Konflikte kaum lösungsorientiert. Stattdessen beherrscht die Wut auf den anderen das familiäre Miteinander. Dies kann im Kindesalter zu einer Überforderung führen, die sich nach innen richtet und sich in Form von selbstverletzendem oder selbstschädigendem Verhalten zeigen kann.
  • Gerade Jugendliche testen ihre Eltern des Öfteren durch wüten-des, aggressives Verhalten: Liebt ihr mich wirklich, werdet ihr trotzdem für mich da sein? Wenn Eltern strafend reagieren, fühlen Kinder sich häufig wenig angenommen.
  • Der Zusammenbruch der Familie, gerade wenn ein Elternteil nach einer Trennung nicht mehr zugänglich ist, bedeutet für Kinder eine Bedrohung, ein Verlassenwerden. Gerade Jungen reagieren nach Trennung der Eltern eher aggressiv. Wut und Aggressionen dienen dann als Selbstschutz: Bevor ich so verletzt werde, greife ich lieber selbst an.
  • Wenn Kinder also erlernt haben, dass sie sich über Aggressionen schützen können, Streit und Angriff das Mittel der Wahl im familiären Miteinander war oder die Eltern überhaupt erst reagierten, wenn das Kind massive Wut zeigte, können diese Muster aus Wut und Aggression sich verfestigen und oft ein Leben lang halten.

    Das Elternverhalten kann dann zu deinem eigenen Modell geworden sein, und in deinen eigenen Beziehungen reagierst du häufig genauso wie deine Eltern bzw. wie eines deiner Elternteile.

    Viele unserer Interviewpartner:innen wünschen sich eine Veränderung. Sie wollen weniger aggressiv in ihren Beziehungen sein und fühlen sich nach Wutausbrüchen oft schuldig: Ich wollte doch nie so werden wie meine Eltern. Doch Muster der Vergangenheit sind sehr stabil, es braucht viel Zeit, um sie zu verändern. Zuallererst gilt es jedoch, diese überhaupt zu erkennen!

    Impulse für dich

    In welchen Situationen fühlst dich schnell angegriffen?

    Spüre einmal in diese Situationen: Welche Bedürfnisse stecken dahinter? Was wünschst du dir eigentlich?

    Stell dir vor, du reagierst das nächste Mal, wenn du in eine Situation gerätst, die dich eigentlich wütend macht, ganz anders: Wie fühlt es sich an? Wer würde es merken? Was würde sich verändern?

    Im Alltag der erwachsenen Trennungskinder zeigen sich diese erlernten Verhaltensmuster häufig, wenn etwa der Partner nicht richtig zuhört, ständig zu spät kommt oder wenn die Geschirrspülmaschine nicht ausgeräumt wurde. Aus dem Ärger darüber kann schnell Wut entstehen, die sich in aggressivem Verhalten zeigt: Brüllen, Schreien, Drohen, Beleidigungen bis hin zu körperlicher Gewalt. Dahinter stehen eigentlich oft Traurigkeit und Angst:

  • Traurigkeit darüber, dass niemand einem zuhört
  • Angst davor, dass niemand die eigene Meinung und den Ärger über das Verhalten des anderen ernst nimmt
  • Verzweiflung darüber, vom Gegenüber nicht wirklich wahrgenommen zu werden
  • Kathrin Hohmann, Autorin des Buches Gemeinsam durch die Wut, fasste das während unseres Interviews in folgende Worte: »Ähnlich wie die Kinder fühlen sich die Erwachsenen missverstanden, denn sie kämpfen für sich und schützen sich. Dieses Verhalten versteht das Gegenüber jedoch miss und es entsteht ein Gefühl von Ich bin falsch, niemand versteht mich

    Die Themen sind ganz ähnlich wie in der Kindheit und werden auch im Erwachsenenalter mit Wut und Aggression beantwortet, weil nichts anderes mehr möglich scheint. Geht es dir auch so, fühlst du dich möglicherweise in solchen Momenten stärker, indem du wütend und aggressiv reagierst? Zu deinen heutigen Bedürfnissen, zum Beispiel gesehen zu werden oder Nähe zu spüren, passt diese Wut jedoch nicht. Eher im Gegenteil erzeugt sie sicherlich häufig ebenfalls Wut und Unverständnis in deinem Gegenüber. Dies kann in eine scheinbar ausweglose Abwärtsspirale führen, in der deine alten Verhaltensmuster wiederholt werden und deine eigenen Kinder diese Muster vielleicht ebenfalls erlernen.

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