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Chemie 2010: Ringen um die Wasserstoffbrücke

Zehn Elemente bekommen neue Atommassen verpasst, die Welt blickt auf die Seltenen Erden, und die NASA blamiert sich mit Arsen-DNA: Das war das Jahr 2010 in der Chemie.
Man sollte ja meinen, nach mehreren hundert Jahren Chemie seien zumindest die grundsätzlichen Fragen geklärt, und man könne sich jetzt auf neue Reaktionen und exotische Materialien konzentrieren, aber weit gefehlt. Das Jahr 2010 sah unter anderem die Generalüberholung der altehrwürdigen Wasserstoffbrückenbindung, deren bisherige Definition auf das Jahr 1931 zurückging. Die Wasserstoffbrückenbindung war demnach eine elektrostatische Bindung zwischen einem elektronegativen Atom und einem Wasserstoffatom, das an einem weiteren elektronegativen Atom hängt und deswegen eine positive Teilladung trägt.

Seit Jahrzehnten schon forderten Wissenschaftler, die Definition an frischere Erkenntnisse anzupassen. 2005 dann setzten die Gralshüter des chemischen Wissens, die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC), eine Kommission ein. Im November stellten die beteiligten Wissenschaftler einen ersten Vorschlag für die neue Definition zur Diskussion. Sie lautet:

"Die Wasserstoffbrückenbindung ist eine anziehende Wechselwirkung zwischen einem Wasserstoffatom aus einem Molekül oder Molekülfragment X-H, in dem X elektronegativer als H ist, und einem Atom aus demselben oder einem anderen Molekül, bei der sich eine Bindungsbildung nachweisen lässt."

Sie wird, so viel ist sicher, für weiteren Streit sorgen.

Auch die Atommassen sind seit diesem Jahr nicht mehr das, was sie mal waren. Ursache sind hier keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse, sondern präzisere Messmethoden, die schonungslos die Schwächen der bisherigen Praxis offengelegt haben. Viele Elemente besitzen mehrere Isotope verschiedener Masse, die in einem bestimmten Verhältnis vorkommen. Zum Beispiel enthält natürlicher Kohlenstoff zu mehr als 98 Prozent das Isotop 12C und dazu etwa 1,1 Prozent 13C und Spuren von 14C. Aus dieser Zusammensetzung errechnete sich bisher die Atommasse.

Allerdings unterscheiden sich diese Verhältnisse von Quelle zu Quelle geringfügig, so dass Kohlenstoff je nach Herkunft etwas leichter oder etwas schwerer ist. Moderne Geräte können diese Unterschiede sehr genau feststellen, so dass die IUPAC nun beschlossen hat, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Mit Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Lithium, Bor, Silizium, Schwefel, Chlor und Thallium verloren insgesamt zehn Elemente ihre eindeutigen Massenzahlen. Stattdessen gibt man nun Intervalle an, in denen die Massen dieser Elemente liegen.

Ringe in Ringen | Die radialen Bindungen zwischen den beiden Ringen des Moleküls lagern sich permanent um, so dass beide gegeneinander rotieren können.
Dass Moleküle nicht zwangsläufig eine feste Struktur haben, sondern sich verdrehen und verformen und sogar ihre inneren Bindungsverhältnisse ändern, ist ebenfalls keineswegs neu. Allerdings stellten Bremer Forscher im Juli eine besondere Variation des Themas vor. Sie konstruierten – im Computer wohlgemerkt – ein Molekül, das aus zwei konzentrischen Ringen von Boratomen besteht, die permanent gegeneinander rotieren. Das funktioniert deswegen, weil die Ringe in sich sehr stabil und untereinander durch radiale chemische Bindungen verbunden sind. Je nach Orientierung der Ringe zueinander existieren für die radialen Bindungen unterschiedliche Konfigurationen, die praktisch ohne Energieaufwand austauschbar sind. Ob das gute Stück in der Realität existiert, ist allerdings eine andere Frage.

Die angewandte Chemie steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Zeichen der Materialwissenschaften. Obwohl das Feld wenige echte Durchbrüche gesehen hat, entwickeln sich gerade exotische Materialien rasant weiter. Großes Vorbild bleibt die Natur mit ihren Werkstoffen, die Schäden und Risse selbstständig kurieren. Die Methoden, diese Eigenschaft künstlich nachzubauen, werden immer raffinierter. Chinesische Wissenschaftler stellten im Juli eine nur mikrometerdicke superhydrophobe Beschichtung mit Regenerationspotenzial vor, ein anderer Kunststoff bremst Risse dank Glasfasern und Laserlicht schon in der Entstehung aus.
Hydrogel | Der elastische Werkstoff besteht aus einem mineralischen Netzwerk und viel Wasser. Da seine Bestandteile über nicht-kovalente Bindungen vernetzt sind, heilt er Risse spurlos aus.
Im Januar stellte Takuzo Aida von der Universität Tokio ein Hydrogel vor, das nicht nur kleine Risse ausheilt, sondern ganze Werkstücke nahtlos miteinander verknüpft.

Konstruiert haben die Forscher den Stoff allerdings aus einem ganz anderen Grund: Er besteht fast vollständig aus Wasser und Tonmineralen statt aus Erdölprodukten. Die fossilen Brennstoffe und ihr baldiges Ende geht die Chemie auf zwei Wegen an. Zum einen sollen wichtige Chemikalien in Zukunft ganz aus nachwachsenden Rohstoffen stammen, zum anderen arbeiten Wissenschaftler an Verfahren, die den Kohlenstoff des Kohlendioxids wieder in wertvolle organische Stoffe umwandeln, ganz nach dem Vorbild der Fotosynthese. Auf beiden Gebieten hat die Forschung 2010 Fortschritte gemacht, der große Durchbruch steht allerdings noch aus.

Auch auf einem anderen Gebiet imitieren Forscher die Natur immer besser: Künstliche Enzyme, maßgeschneidert für alle Arten von Reaktionen, insbesondere solche, die in der Natur nicht vorkommen. Im Juli hat ein Team um David Baker von der University of Washington in Seattle erstmals künstliche Enzyme vorgestellt, die eine in der Natur nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht vorkommende Reaktion katalysieren. Nach mehreren Optimierungsschritten im Reagenzglas und am Computer präsentierten die Forscher zwei Enzyme, die eine Diels-Alder-Reaktion zwischen 4-Carboxybenzyl-trans-1,3-butadien-1-carbamat und N,N-Dimethylacrylamid um ein Vielfaches beschleunigen.

Bedeutsam für das Design zukünftiger Materialien auf Proteinbasis erscheinen auch neue Erkenntnisse über die Details der Seidenproduktion. Nicht allein der Aufbau des Proteins macht den Naturfaden zu einem der zähesten Materialien überhaupt – eine wichtige Rolle spielen auch Salze und Scherkräfte, wie Forscher zu Beginn des Jahres demonstrierten. Auf der Suche nach Designer-Biomolekülen manipulieren Forscher mittlerweile sogar die Bausteine der Proteine selbst – spezialisierte Mikroorganismen können inzwischen auch unnatürliche Aminosäuren verarbeiten und so das Spektrum möglicher Enzyme enorm erweitern.

Bakterien mit interessantem Innenleben | Ein seltsamer Geselle ist der Bakterienstamm GFAJ-1 allemal, denn er kann jede Menge Arsen aushalten, auch wenn er es nicht in seine DNA einbaut. Dabei helfen ihnen womöglich Vakuolen ähnelnde Strukturen im Inneren.
Vergleichbar fremdartige Biokatalysatoren erhofften sich NASA-Forscher kürzlich von einem in Kalifornien entdeckten Mikroorganismus namens GFAJ-1. In dessen Genom wollten Wissenschaftler um die Biologin Felisa Wolfe-Simon statt des unverzichtbaren Phosphors das eigentlich giftige Element Arsen gefunden haben. Den Befund verkündete die NASA großspurig als bedeutende Entdeckung für die Suche nach außerirdischem Leben und hofften auf große öffentliche Aufmerksamkeit. Die haben die Forscher auch bekommen, allerdings anders, als sie sich das vorgestellt haben: Experten aus allen relevanten Fachgebieten verdammten die Arbeit einhellig als schlampig und wahrscheinlich falsch. Wichtigster Kritikpunkt: Arsenhaltige DNA würde sich in Wasser binnen weniger Minuten auflösen.

Im September richteten sich die Blicke der Weltöffentlichkeit auf die ebenso obskure wie unverzichtbare Stoffklasse der Seltenen Erden. Metalle wie Neodym kommen insbesondere in Materialien für anspruchsvolle Anwendungen wie erneuerbare Energien zum Einsatz, und den Industrieländern fiel eines schönen Morgens auf, dass nahezu die gesamte Weltproduktion aus China kommt. Nun wird wieder fleißig prospektiert, doch es wird noch ein paar Jahre dauern, bis die neuen Minen den Weltmarkt beliefern.

Und dann gab es dieses Jahr noch den Nobelpreis, beziehungsweise die Nobelpreise. Auch in Physik bedachten die Stockholmer dieses Jahr ein chemisches Thema mit der Auszeichnung, und zwar mit Graphen eines, das nach wie vor im Fokus aktiver Forschung steht. Der Nobelpreis für Chemie dagegen ging dieses Jahr an eine altehrwürdige Entwicklung, deren Würdigung lange schon erwartet wurde.

Heck-Reaktion | Schematischer Ablauf der Heck-Reaktion von Brombenzol mit Ethen. Im ersten Schritt schiebt sich das Palladium zwischen den Benzolring und das Brom. Diesen Schritt bezeichnet man als oxidative Addition, er ist allen palladiumkatalysierten Kreuzkupplungen gemein. Anschließend schiebt sich das Ethen in zwei Schritten zwischen Palladium und Kohlenstoff. Im letzten Schritt, der reduktiven Eliminierung, entstehen das gewünschte Produkt Styrol, Bromwasserstoff und das Palladium, das für den nächsten Zyklus bereit ist. Die Liganden am Palladium sind nicht dargestellt.
Den Preis teilten sich Ei-ichi Negishi, Richard Heck und Akira Suzuki, die an der Entwicklung der industriell bedeutsamen Palladiumkatalyse entscheidend beteiligt waren. Mit Komplexen auf der Basis von Palladium bauen Chemiker die Kohlenstoffgerüste von Polymeren bis hin zu Medikamenten zusammen, ein Reaktionstyp, der heute die Grundlage der organischen Chemie bildet. Beiden Nobelpreisen ist gemeinsam, dass die Themen zwar unumstritten sind, man jedoch noch lange diskutieren wird, ob die einen zu Recht geehrt, die anderen zu Recht übergangen wurden.

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