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Weitstapelei

Treitz-Rätsel

Rolf und Sonja haben Domino gespielt. Nun bauen sie Mauern und Häuser aus den Steinen.

Rolf: Wenn ich einen Stein an den Tischrand lege, kann er fast zur Hälfte ins Freie ragen. Wenn ich nun mehrere übereinander lege, einen immer weiter nach auáen als den vorigen, komme ich dann auf eine volle Steinlänge Überhang?

Sonja: Wenn du da noch einen drauflegst und ihn weiter nach außen ragen lässt, fallen beide nach unten.

Rolf: Stimmt. Aber wenn ich den ersten nicht so weit nach außen lege, komme ich mit dem zweiten vielleicht weiter. Ob man sogar mehr als eine ganze Steinlänge erreichen kann?

Man kann sogar beliebig weit kommen, was nun wirklich kaum zu glauben ist. Allerdings werden die Bauten auch "entsprechend" hoch, eigentlich sogar noch viel höher, als man beim Wort "entsprechend" vermuten könnte.

Was Sie dazu brauchen: Dominosteine oder gleichlange (und gleichdicke) Bauklötze, möglichst mit scharfen (unabgerundeten) Kanten, auch Bierfilze eignen sich. Klebstoffe sind bei diesem Versuch ausdrücklich verboten! Wenn Sie einen Computer oder Taschenrechner haben (am besten einen programmierbaren), können Sie die erstaunlichen Behauptungen nachrechnen (lassen).

Die Schildbürger haben bekanntlich ein Haus gebaut und dabei mit dem Dach angefangen. Was bei einem normalen Haus eher unzweckmäßig ist, erweist sich bei unserer Weitstapelei als ausgesprochen praktisch: Setzen Sie einen Stein oder mehrere aufeinander liegende Steine, die gerade noch nicht über die Tischkante fallen, so wie sie sind, statt auf den Tisch auf einen neuen Stein, und zwar genau so weit überhängend wie zuvor. Mit dem nun nach unten gewachsenen Stapel geht es genau so weiter. Der oberste Stein ragt dabei am weitesten (nämlich um eine halbe Steinlänge) über seinen unteren Nachbarn, nach unten wird der Unterschied immer kleiner.

Schon mit 4 Steinen können Sie eine volle Länge Überhang erreichen, mit 11 immerhin anderthalb Längen (wenn die Steine abgerundete Kanten haben, brauchen Sie etwas mehr). Es sieht so aus, als müsste es jeden Augenblick umstürzen, und tatsächlich ist es ja auch nur knapp davon entfernt.

Der erreichbare Überhang des obersten Steines ist (beliebig wenig weniger als) eine halbe Länge. Der gemeinsame Schwerpunkt beider liegt um 1/4 Länge weiter "landeinwärts", der der drei obersten um 1/6 weiter als der vorige, der der vier obersten wieder um 1/8 weiter.

Wenn Sie also der Reihe nach die Kehrwerte der geraden Zahlen zusammenzählen (evtl. mit Taschenrechner), bekommen Sie die Überhangweiten für jeweils einen Stein mehr. Bei 31 Steinen wird der Überhang 2 erreicht, bei 91380 Steinen sogar 6 Längen (das erfährt man von einem programmierbaren Rechner: Man setzt eine Anweisung ins Programm, die die Zahl der Steine anzeigt, sobald eine gewisse Zahl, die in einem bestimmten Speicher sitzt, als Überhang erreicht wird; sodann wird diese Zahl um 1/2 oder um 1 erhöht).

Für fortgeschrittene Mathematiker:

Für \(n\) Steine der Länge \(L\) berechnet sich der erreichbare Überhang \(U\) zu \[U = {1 \over 2L} \sum_{m=1}^n {1\over 2m} \]

Wenn \(n\) immer größer wird, wird es auch \(U\), und es gibt keinen Wert für \(U\), der dabei nicht überschritten werden könnte. Die Mathematiker sagen: Es gibt keinen endlichen Grenzwert der Summe, sie konvergiert nicht, sondern divergiert.

Schauen wir uns nun einmal eine Tabelle an:

Der Faktor, um den wir unseren Bau erhöhen müssen, um noch einen halben Stein nach außen weiter zu kommen, strebt anscheinend einem bestimmten Wert zu. Kenner der höheren Mathematik erkennen in ihm die berühmte Zahl \(e\) und wundern sich auch nicht allzusehr: Wenn man die Summe durch ein Integral ersetzt (für große Werte ist das vernünftig), erhält man als Lösung den "natürlichen" Logarithmus und als dessen Umkehrfunktion die Exponentialfunktion zur Basis \(e\).

Genauer ist der Zusammenhang: \[\sum_{k=1}^n {1 \over k} = \ln n +C\]

mit der Euler-Mascheroni-Konstanten \(C\) = 0,577215664901532860606512090082402431...

Auch wenn Ihnen diese Mathematik zu "hoch" ist, können Sie unsere Tabelle verwenden: Geben Sie einfach die Zahl 2,71828 (\(\approx e\)) als Speicherwert in den Rechner und verwenden Sie ihn so oft als Faktor, wie Sie halbe Steinlängen über den Abgrund ragen lassen wollen: So kann man sehr schnell (!) auch ausrechnen, dass man für 20 Längen Überhang circa 132000 Billionen Steine aufeinanderstapeln müsste. Das kann man noch einfacher abschätzen, wenn man bedenkt, dass \(e^7\) ungefähr dasselbe ist wie \(10^3\).

Das ist natürlich eine sehr theoretische Rechnung: Eine solche Brücke zu bauen, übersteigt nicht nur die Geduld, sondern auch die Lebensdauer (rund 2 Mrd. Sekunden) eines Menschen bei weitem, außerdem ist es eine beträchtliche Menge Holz, und die Steine müssten genauer als auf Bruchteile eines Atomkerndurchmessers gesetzt werden. Hier stößt die Physik doch sehr bald auf Grenzen der Natur, um die sich die Mathematik nicht kümmert.

Bisher haben wir rechteckige Klötze als Steine angenommen. Wie ist es mit kreisrunden (Bierfilzen!) oder dreieckigen?

Es geht genau so, aber wir müssen als Größe der Steine stets den Abstand zwischen Schwerpunkt und dem äußersten Randpunkt, den wir jeweils verwenden, zu Grunde legen. Beim Kreis ist das auf jeden Fall der Radius, beim Rechteck bei günstiger Wahl die Hälfte der langen Seite, beim regelmäßigen Polygon ganz allgemein der Umkreisradius. Bei richtiger Orientierung kommt man also mit Dreiecken sehr weit.

Die Variante mit dem Dreieck verdanke ich Albrecht Beutelspacher (Uni Gießen und Mathematikum).

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